Vernissage
Samstag, 6. November 2004, 15 bis 18 Uhr
Musikalische Begleitung durch Dave Rodriguez, Saxophon
Anlässlich der Ausstellung erscheint zudem das Kunstbuch
«Ombré» (Verkaufspreis Fr. 25.–).
Ausstellung
6. November 2004 bis 7. Januar 2005
Zum einen der zornige und bestürzende Rap eines Jungen, sein Schreien in der intimen Stille des geschriebenen Wortes. Zum anderen die bunt schillernden Bilder einer Mutter, die das Unannehmbare malt, um ihrem Schmerz Gestalt zu verleihen. Und zwischen den beiden spinnt die Poesie ihre Fäden. Dort jene der abgehackten, synkopisierten Wörter, die sich drängeln und ihre schroffen Reime skandieren. Hier jene andere, die endlos den Traum auf den Palimpsest 1 der Erinnerung schreibt. Lionels Gedichte haben den rauen Klang, den stockenden Rhythmus und die Form jugendlicher Ungeschliffenheit.
Rosemondes Malerei zeugt von der sicheren Gewandtheit einer langen Praxis, von der Milde möglicher Fluchtwege, von erlesener Raffinesse und einer Ader für das Ornament, das immer barockere Züge annimmt.
Für jene, die ihn kannten und liebten, war Lionel eine Lichtgestalt. Er selber aber hatte sich diesen aufwühlenden und grossartigen Übernamen gegeben: Ombré, der Beschattete. Als ob er sich zweiteilen und darin das Gegenstück zu seinem hellen Ausseren zum Vorschein bringen wollte. Indem er seine dunkle Seite jenem einzigen weissen Blatt anvertraute.
Indes sollten seine rebellischen Verse statt stumm gelesen vielmehr laut, rhythmisch hämmernd herausgeschrien werden wie eine Litanei. Oder man müsste ihre wilden Schläge im Kopf dröhnen hören. Dennoch sind diese Reime nicht bloss Geschrei und rohe Wut. Weil sie im Wesentlichen und in grosser Reinheit von der Freundschaft sprechen, weil sie trotz allem nicht vom Glauben an die Schönheit der Liebe lassen, weil sie angesichts der Hässlichkeiten der Welt den Wandel zum Schönen fordern und weil sie trotz ihrer Rauheit und Widerborstigkeit den Willen zur Form und zum schöpferischen Akt erkennen lassen.
Wer malt, schafft sich Gelegenheit, andere Zeiten und andere Orte, andere Planeten und andere Möglichkeiten zu durchmessen. Nicht als Flucht aus dieser Welt und aus dem Leben, das sie zu bieten hat, sondern um das Leben reicher zu machen.
Rosemondes Malerei ist immer geprägt vom Verlangen nach dem Anderswo, wobei geografische Erkundungen und Entdeckungsreisen der Fantasie ineinander übergehen. Malen im Gedenken an Lionel durfte nicht Illustration ihres Schmerzes mit Schreien und ausdruckstarkem Gestikulieren sein. Vielmehr galt es, die Reise fortzusetzen, das Unzulässige zu transzendieren und weiter vorzudringen in die versteinerten Landschaften ihrer Traumwelten, zu ihren körperartig gravierten Reliefs, zu ihren Dünen, wie von Sandwind oder Meeresströmung geformt.
Rosemonde war schon immer zutiefst von der so genannt «ursprünglichen» Kunst der Naturvölker fasziniert. Doch das, wozu sie sich von ihr inspirieren lässt, trägt keinerlei «primitive» Züge; sie deutet sie auf ihre Weise neu, verziert sie mit Feinheiten nach Art der Goldschmiede: in Türkis und Lapis, Rosa, in Mauve‑ und Violetttönen, Mattsilber oder Altgold.
Das Schicksal wollte es, dass Ombrés Gedichte erst nach seinem Tod in einer Geheimschublade entdeckt wurden.
Mit ihrer spröden Kraft und dem Tonfall sehr heutigen Aufbegehrens klingen sie wie ein Widerwort zur gepflegten und kunstreichen Fülle im Werk seiner Mutter. Aus dieser beunruhigenden Entdeckung heraus stellt sich quälender als alles die Frage: warum? Aber soll man das Unerklärliche wirklich zu erklären versuchen?
In «Ein Teufel im Paradies» 2 rührt Henry Miller so treffend an das tiefe und unsagbare Geheimnis gewisser Menschen, dass man nicht anders kann, als ergriffen zu sein, wenn er dies den Steinbockgeborenenzuschreibt, denn ein solcher war auch Lionel.
«Sie betreten die Welt», schreibt er, «wie Gäste, die für einen anderen Planeten, für eine andere Sphäre bestimmt sind. Sie erweckenden Eindruck, als ob sie einen letzten Blick umherwürfen, wie wenn sie ständig von allem, was irdisch ist, Abschied nähmen. Sie saugen geradezu das Wesen des Irdischen in sich auf, aber es dient ihnen nur dazu, den neuen Körper, die neue Form vorzubereiten, in denen sie für immer die Erde verlassen. Sie sterben unzählige Tode, während andere nur einmal sterben. Daher sind sie gegen Leben oder Tod gefeit. Ihr wahrer Wohnort ist das Herz des Mysteriums. Dort ist ihnen alles klar. Dort leben sie getrennt, spinnen ihre Träume und sind «daheim».
Françoise Jaunin